Die Grundlage unserer freiheitlichen europäischen Kultur ist im Christentum gegeben, das sich durch die Reformation und die Aufklärung entwickelt hat. Diese Entwicklung musste vielfach gegen die Kirche erkämpft werden. Die Kirche selbst als Organisation war zeitweise das größte Hindernis für diese Entwicklung. Das lebendige Wesen des Auferstandenen, der unsere Menschheitswege begleitet, sucht immer wieder neue Formen und Möglichkeiten. Wir sind überzeugt davon, dass Christus selbst mit den Formen, welche in der Christengemeinschaft lebendig sind, einen Versuch unternommen hat, Sein Christentum in der Richtung heutiger Spiritualität zu entwickeln.
Als die ersten Christen in Jerusalem sich sammelten, nannten sie sich „Anhänger des neuen Weges“ und meinten damit eine neue Richtung in der jüdischen Religion. Die andern sprachen von ihnen als von einer Sekte. Schon damals hatte dieser Ausdruck das Anrüchige, was ihm auch heute anhaftet. Was sind die Kennzeichen einer Sekte? Sie folgen einem Führer, sind fanatisch von der eigenen Anschauung überzeugt, halten sich selber für die einzigen, die auf dem rechten Wege sind. Mit dem Atem der Freiheit, der gerade das wesentliche Merkmal des Christentums ist, ist alles Sektiererische unvereinbar. Ist nun die Christengemeinschaft eine Sekte? Wir können vielleicht sagen – ihrem Wesen nach nicht, aber die Gefahr, sektiererische Züge anzunehmen ist immer gegeben, muss immer beachtet werden.
Die Christengemeinschaft ist durch die Hilfe Rudolf Steiners und der Anthroposophie möglich geworden. Sie ist aber offen für alle suchenden Menschen, denen eine zeitgemäße Form christlichen Lebens ein Anliegen ist. Wer sich ihr anschließt, wird im Lauf der Zeit voraussichtlich auch anderen Anwendungsgebieten der Anthroposophie begegnen. Wie weit er sich mit ihnen befassen wird, liegt völlig in seiner Hand.
Das Leben in der Christengemeinschaft geht nicht von bestimmten Glaubensinhalten aus, auch nicht von der Wiederverkörperung. Es beginnt mit dem Erleben der kultischen Handlungen. An diesem können dann Fragen erwachen. Eine von diesen kann die Frage sein, ob wir schon früher auf der Erde gelebt haben und später in künftigen Leben zu ihr zurückkehren werden. In wie weit sich daraus eine Überzeugung bildet, ist dem individuellen Fragen anheim gestellt. Kurz gesagt: in der Christengemeinschaft muss man an gar nichts „glauben“.
Die materielle Grundlage der Christengemeinschaft bildet sich aus den nach freier Selbsteinschätzung gegebenen Beiträgen ihrer Mitglieder und Freunde. Wenn nach einem Richtsatz gefragt wird, kann die Antwort sein: jeder soll so viel geben, dass er es merkt. Denn erst, wenn es ein Verzicht ist, hat eine Spende den Opfercharakter, der ihr eine religiöse Bedeutung gibt.
Als 1922 die Christengemeinschaft ihre Wirksamkeit begonnen hat, war es noch etwas sehr Ungewöhnliches, Frauen als Priesterinnen am Altar zu erleben. Inzwischen ist es nicht mehr so ungewöhnlich, eine Frau in dieser Tätigkeit zu erleben. Es wäre vielmehr von vorgestern, dies für nicht möglich zu halten, wie das im Katholischen und im Orthodoxen bis heute immer noch ist. Die Menschheit entwickelt sich weiter und die Teilnahme der Frauen am Berufsleben in vorherigen Männerdomänen ist ein Teil dieser Entwicklung. Jedenfalls kann aus der Erfahrung gesagt werden, dass wir in diesem ersten Jahrhundert unserer Christengemeinschaft den Segen dieser Neuheit deutlich erleben konnten und immer weiter können.
Der Weg zur Priesterweihe ist eine Ausbildung von gewöhnlich drei Jahren. Sie möchte in dem Kandidaten, der Kandidatin, die nötigen Fähigkeiten ausbilden, die ihn in die Lage versetzen, ein lebenslang Lernender zu sein und einer zu werden, der die Freiheit, in die ihn der Priesterberuf versetzt, möglichst gut zum Heil seiner Gemeinden nutzen kann. Denn der Priesterberuf ist ein sehr freier. Es gibt keine Vorgesetzten, kein vorgeschriebenes Profil. Wir alle erstreben die Freiheit und Selbstbestimmung. Wenn sie uns gegeben ist, müssen wir lernen, damit umzugehen. Deshalb ist eines der wichtigsten Auswahlkriterien die Frage, ob der Kandidat ein innerlich genügend freier und zugleich treuefähiger Mensch ist.
In der Christengemeinschaft gibt es alle sieben Sakramente – Taufe, Konfirmation, Eucharistie, Beichte, Letzte Ölung, Priesterweihe und Trauung - in einer wesentlich erneuerten Gestalt. Darüber ist schon viel geschrieben worden. Eine Kurzdarstellung von Claudio Holland ist hier zu finden.
Die Christengemeinschaft ist von der Überzeugung erfüllt, dass die großen Geschenke neuer, zeitgemäßer Formen religiösen Lebens, die ihr zugekommen sind, der ganzen Menschheit gehören. Sie möchte aber in keiner Weise die Freiheit anderer antasten. Deshalb findet eine eigentliche Missionierung nicht statt. Aber wir versuchen, in frei zugänglichen Vorträgen und in im Buchhandel erhältlichen Veröffentlichungen, möglichst vielen Menschen von diesen Geschenken, und wie man ihrer teilhaftig werden kann, zu erzählen. Oft sind es die Kinder, die am Religionsunterricht der Christengemeinschaft oder an Kinder – und Jugendfreizeiten teilnehmen möchten, welche dann ihre Eltern mitbringen.
Die ersten Gemeinden der Christengemeinschaft haben mit ihrer Tätigkeit 1922 im deutschsprachigen Raum begonnen. Bald schon aber kamen Fragen von Menschen aus anderen Ländern, die dann zur Ausbreitung führten. Heute sind unsere Rituale in viele Sprachen übersetzt. Es gibt Gemeinden in allen Kontinenten. Eine Gemeinde in Ihrer Nähe kann über diesen Link gefunden werden.
Text: Dieter Hornemann